Tilmann Hoffer für den Kreuzer Leipzig:
“>Wahnsinn in Bertas Bar
„Ausweglosigkeiten“ von 4thProtocol in der Moritzbastei
Müsste ein zukünftiger Historiker die heutige Empfindungslage nur aus dem Stück „Ausweglosigkeiten“ von Julia Salome Nauer und Patricia Hoffmann rekonstruieren, er würde wohl zu dem Schluss kommen, dass schon im frühen 21. Jahrhundert alles ziemlich im Eimer war. Vielleicht würde er nicht mehr wissen, was genau#metoowar, was man sich unter der Energiewende vorstellte oder was daran so komisch sein soll, wenn ein verzweifelter Geschäftmann in Europa bleiben will, bis Amerikagreat againist. Aber er würde wohl bemerken, dass mit diesen Figuren irgendwas nicht stimmt: ein gewisser Hänsel, der zwanghafte Streitgespräche mit seiner abwesenden Schwester Gretel führen muss, mit der ihn offenbar eine traumatische Kindheit verbindet;ein Germanist, dem Sexismus vorgeworfen wurde, der aber nun, seit er Frauenkleider trägt, Walter Benjamin viel besser versteht (oder das zumindest glaubt). Überhaupt, das Geschlechtlichte – es scheint ganz so, als wüssten Männer und Frauen endgültig nichts mehr miteinander anzufangen. Am Vielversprechendsten ist da noch die Anbahnung zwischen dem Hobbywissenschaftler und Pyromanen Leitner und der selbstlernenden Roboterfrau Ludovica, die sich immerhin über Kondensatorplatten und die Van-der-Waals-Gesetze unterhalten können.
Genau eine Stunde dauert das Gewitter aus pointenreichen und schnell getakteten Dialogen, nicht länger. Doch das genügt der Truppe4thProtocol, um ein Kaleidoskop der zeitgenössischen Verirrtheiten und Neurosen zu entfalten. Das Tragische und zugleich sehr Witzige daran ist, dass weit und breit kein erlösender Therapeut auftaucht, sondern dass, wie im wahren Leben, Verrückte immer nur andere Verrückte finden, denen sie ihr Leid klagen können. Denn alles spielt sich nicht etwa in einem gediegenen Sanatorium ab, sondern in Bertas Bar.
Wer ist diese Berta, die eine sphärische Schattenexistenz als märchenerzählende und manchmal verstörend gehässige Off-Stimme führt? Gott? Oder der Teufel? Ist die Bar die Hölle? Nein, sie befindet sich ja in Europa. Sind die anderen die Hölle? Schon eher. Man könnte „Ausweglosigkeiten“ für ein zeitgemäßes Update von Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ halten, doch dafür fehlen dem Stück glücklicherweise die metaphysischen Belehrungen und der humanistisch erhobene Zeigefinger. Vielleicht ist sogar die die ewige Wiederkehr des Gleichen nur ein surrealer Witz.
Autorin und Schauspielerin Julia Salome Nauer zum Walter Benjamin-Zitat:
“Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heisst nicht viel, sich aber in einer Stadt zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung”. Das, unser Leitzitat von AUSWEGLOSIGKEITEN, verstehe ich folgendermassen: Sich in einem Walde zu verlaufen ist keinesfalls etwas Neues. Eben: Bereits Hänsel und Gretel und viele andere Märchenfiguren haben sich schon in Wäldern verirrt. Ein alter Hut, ein alter Topos also in der westlichen Kulturgeschichte.
Was bedeutet es nun aber, wenn dies altbekannte Motiv auf das, was wir heute das grossstädtisch Urbane nennen, angewandt wird?
Es ist möglicherweise als Aufruf, als Appell zu verstehen: Lasse dich auf das Märchenhafte einer Grossstadt so ein, wie du dich auf das Ungewisse eines verhexten Märchenwaldes einlassen würdest! Trau dich, im wortwörtlichen Grossstadtdschungel vom Weg abzukommen.
Wir sind also von Benjamins Zitat aufgefordert, eine gewisse Kontrolle abzugeben an die Stadt; so, wie wir einem düsteren, dunklen Wald ausgeliefert sind – wie Hänsel und Gretel.
Hingegen sich in einer Stadt nur “nicht zurechtfinden” heisst wirklich “nicht viel”: Denn man lässt sich gar nicht erst auf die Stadt ein: Man ist nur Tourist auf Durchreise.
Es gibt es doch, das Hexenhaus
AUSWEGLOSIGKEITEN
Ein Stück von Julia Salome Nauer und Patricia Hoffmann
Im Keller 62
Gefangen sind sie, die irren wirren Gestalten, die sich hierher verirrt haben, in Bertas Bar, verirrt auf der Suche nach sich selbst. Der gelehrte Germanist Hieronymus – oder Geronima? – (Tobias Fischer) zitiert denn auch Walter Benjamin: „Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heisst nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.“ Als Mann traumatisiert von #metoo, geht er fortan als Frau durchs Leben. Der Amerikaner Dick – nomen est omen – (Marco von Moos), der auch nicht genau weiss, wohin er gehört, lässt sich mit ihm zunehmend auf nicht nur philosophische Gespräche ein.
Dann ist da der notorische, aber geniale Zeusler Leitner – ja genau, nomen est omen! (Philip Reich), der mit Blitzen experimentiert und sich nicht mehr nach Hause getraut, weil er nicht genau weiss, ob es sein Haus noch gibt… Ludovica, die Mensch-Maschine (Julia Salome Nauer), ist ein Auslaufmodell und findet keine Steckdose mehr, um ihr Akku aufzuladen. Schliesslich Hänsel (Kevin Mike Minder), der mit seiner Gretel-Puppe ein weitaus schlimmeres Kindheitstrauma erlebt hat als gemeinhin bekannt und jetzt an einer Essstörung leidet. Und dann der anonyme Musiker (Ali Salvioni alias Settore Giada), der für alles den richtigen Ton trifft und musikalisch zusammenhält. Das Stück wird dichter und dichter in Bertas unheimlicher Bar. Ob jeder und jede hier je wieder einen Ausweg findet? Aus dieser Bar, aus diesem Keller? Oder ist es… vielleicht doch keine richtige Bar? Und WO ist der Keller?
Der Text ist gescheit und witzig zugleich, psychologisch hinter- bis abgründig, in der Sprache oszillierend und nicht nur bei Leitner Funken sprühend.
Präzis inszeniert von Patricia Hoffmann, präsent gespielt – bemerkenswertes junges Theater.
Sabine Droz
“Und schon ist die Premiere Geschichte: das war fantastisch! Einfallsreich, unterhaltsam und sehr überzeugend gespielt!”